Die Diagnose als Mittel zum Zweck
Wie wir mit Diagnosen umgehen kann man wohl an einem konkreten Beispiel am besten verdeutlichen:
Vor einigen Tagen kam ein junger Mann zu mir mit seinen jahrelangen Migrainebeschwerden. Als wir die Vorgeschichte besprachen schilderte er mir seine letzten Erfahrungen mit den werten Berufskollegen. Er habe sich auf Anraten seines Hausarztes einen Kernspin des Kopfes machen lassen. Dabei sei kein Hinweis auf Bösartiges oder Entzündliches zu finden gewesen, aber der Arzt habe ihm gesagt, er wisse nun, wo die Migraine herkommt: zu viele Blutgefäße im Hirnstamm, und das führe zu den Beschwerden. Auf seine Frage, was man da machen könne, sei er auf Medikamente verwiesen worden.
Nun muß man solch eine Erzählung immer mit einem Körnchen Salz nehmen. Was da genau gesagt wurde kann nie mehr objektiviert werden. Sicher ist aber, dass es so beim Patienten angekommen ist.
Gehen wir mal davon aus, dass der Kollege von der Richtigkeit seiner Aussage überzeugt war (ist ja zu hoffen). Was bringt so eine ‚Diagnose‘ dem Patienten? Migraine ist immer – wie fast alle anderen Beschwerden auch – eine Gemengelage und wird von verschiedensten Ursachen beeinflusst. Gerade bei Migraine spielt zum Beispiel die Familienanamnese eine große Rolle. Man ‚erbt‘ die Veranlagung dazu recht häufig. Auch Wetterfühligkeit gehört zum Standard- Repertoire der Migrainiker, ebenso wie bei Frauen eine Abhängigkeit von der Periode.
All dies spielt eine Rolle bei der Beschwerdeausprägung – aber man hat herzlich wenig Einfluß darauf. Wenn man also einem Patienten sagt: „Kein Wunder, dass Sie Migraine haben, ich hab ja schon Ihre Frau Mutter deshalb dauernd hier gehabt!“ mag das sachlich richtig sein, es zieht den Leidenden nicht aus dem Loch.
Wir betrachten Diagnosen als Mittel, einem Problem auf den Leib zu rücken und nicht als Wert an sich. Das heißt in solchen Fällen, dass wir uns den Teilaspekt des Problems vornehmen, den wir am besten beeinflussen können, und dann schauen, was dabei herauskommt. Dann hat der Patient immer noch die gleiche Familie, Wetterfühligkeit oder Gefäßversorgung – aber ganz oft geht es ihm halt viel besser.
Und darauf kommt es letztlich an. Bei dem eingangs erwähnten Patienten haben wir deshalb die Statik geändert und einiges an der Halswirbelsäule deblockiert – jetzt werden wir mal sehen, wie er reagiert. Von der panischen Fixierung auf seine ‚falschen‘ Blutgefäße im Hirnstamm konnte ich ihn hoffentlich abbringen…