Paradebeispiel Schulterschmerz
Das Elend mit den Schulter- Operationen

Anatomie der Schulter
…wird mal wieder deutlich, wenn ein profilierter Schulterspezialist und -Operateur kund und zu Wissen gibt, daß ein Großteil der Schulter- Ops unnötig sind (Spiegel online 17.11.17). Doch nicht genug damit: Es geht den Patienten oft nicht so viel besser, daß die Operation damit zu rechtfertigen gewesen wäre – und eine operierte Schulter trägt zumindest lokale Vernarbungen in Zukunft mit sich rum. Wie oft hört man „Erst war es links, dann rechts schmerzhaft!“ – als Hinweis darauf, daß wohl nicht die lokale (und erst so einleuchtende) Erklärung treffend war. Wim Schreurs, ein niederländischer orthopädischer Chirurg, geht immerhin den halben Weg: „Das Problem ist, dass die Ursache eines Einklemmungssyndroms oft in einer entzündlichen Schwellung der Muskeln, Sehnen und Schleimbeutel in der Schulterregion liegt. Nur weil diese Schwellung mehr Raum beansprucht, kommt es in vielen Fällen überhaupt erst zum Platzmangel. Zwar sind es oft knöcherne Unebenheiten, die die Weichteile reizen. Doch wenn man lange genug wartet, verschwindet die Schwellung – und damit auch der Schmerz – oft von allein. Das sind einfach die Selbstheilungskräfte des Körpers. Operiert man bei einem Engpasssyndrom zu einem bestimmten Zeitpunkt, sind die Schmerzen danach zwar ebenfalls oft weg. Die Frage ist nur: Liegt das an der OP – oder ist das der natürliche Lauf der Dinge?“
Immer wieder wird man eine lokale Störung finden, die letztlich das Problem- Faß zum Überlaufen brachte. Aber ebenso wichtig ist eben, daß mindestens genauso oft eine weiter entfernt liegende Schwierigkeit erst ‚die Schwellung‘ oder ‚die Entzündung‘ verursacht hat. Und wenn man hier ansetzt – und ein bißchen Geduld hat – dann ist eben die lokale Problematik nicht mehr sooo wichtig. Nicht, daß man nicht auch lokal ansetzen kann. Wenn gar nichts dabei herauskäme, warum könnten sich dann die vielen Ops so überzeugend an den Mann bringen lassen? Beide müssen daran glauben, der Operateur und der Patient. Beim Operateur hilft zumindest, wenn das Ganze sich auch rechnet…
Was immer wieder erstaunt ist, wie zäh sich manche Op hält. Aber das ist nicht auf die Schulter beschränkt, sondern umfaßt eigentlich einen Großteil der orthopädischen Ops.
Wie fast alle gerade aus der Uniausbildung Kommenden war ich als junger Arzt überzeugt, daß ein Röntgenbild oder ein anderes bildgebendes Verfahren mir ein sicheres Urteil über die Notwendigkeit einer Operation erlaubte. Bis man dann die alte Dame gegenüber sich sitzen hat, die ganz kategorisch sagt: „Junger Mann, ich lass mir keine neue Hüfte einbauen! Ich kann nicht 6 Wochen ausfallen, mein Mann ist krank zu hause, der braucht mich!“ – und konservativ (d.h. nicht- operativ) loslegt – und staunend sieht, daß manch eine leidende Patientin trotz miesester Röntgenbilder ihre Schmerzen los wird und einigermaßen ‚funktioniert‘. Das Röntgenbild hat sich nicht geändert, das subjektive Befinden allerdings.
Das ist ungefähr das Umgekehrte des Resultats eine unlängst mit ‚Lancet‘ veröffentlichten Studie, die zeigte, daß das reine Aufschneiden schon so heilsam war wie die komplette Op. Sie untersuchten eine spezielle Schulter- Op, von Bandscheiben- Ops oder manchen Weichteil- Ops am Knie ist Ähnliches bekannt. Endoprothesen- Ops kann man schlecht so untersuchen, da sie Befunde im Röntgenbild hinterlassen, und man dann die Patienten aktiv beschummeln müßte …
Wir – das heißt die Orthopäden- und Chirurgenzunft – wissen das schon seit vielen Jahren. Aber die Umsetzung! Der Patient drängelt „das Ding wegzumachen“, selber glaubt man ja auch (ein bißchen) dran – und es lohnt sich ja auch!
Als Anfänger hatte ich einen sau- Respekt vor Schulterproblemen, weil ich fast nie mit meinen Therapie- Ergebnissen zufrieden war. Was haben wir nicht an vielen Schultern und Schleimbeuteln oder Engstellen rumoperiert – und waren nachher genauso unglücklich wie die Patienten. Schließlich fiel mein Groschen. Ich sah ein, daß man mit der Schulter am besten zurechtkommt, wenn man sie nicht in den Mittelpunkt stellt.
Heute sind Schulterschmerzen und -Bewegungseinschränkungen eines unserer ‚Lieblings-‘ Probleme. Der Erfolg gibt uns recht, aber eben auch, weil wir nicht jedes gerissene Teilchen einer Rotatorenmanschette (um nur ein Beispiel zu nennen) allzu ernst nehmen. Die Patienten sind manchmal ganz enttäuscht, wenn wir die Schulter selber gar nicht röntgen, sondern uns mit der klinischen Untersuchung begnügen. Aber dann begibt man sich in das unsichere Terrain der vielen Faktoren, die auf die Schulter einwirken, und die eben immer von vielen, vielen Faktoren abhängig sind. Wer hier ehrlich einen Lösungsweg sucht, muß jede Planbarkeit, jede Gewissheit neben sich legen. Es gibt bestenfalls Wahrscheinlichkeiten.
Und man kämpft mit einer weiteren durch etliche Untersuchungen erhärteten Erkenntnis: je massiver und teurer, desto ‚besser‘ ist ein Plazebo – und das sage ich ganz wertfrei. Natürlich sollte man seine Patienten nicht veräppeln, aber man kann diese Ebene des ‚Wirkens‘ von Behandlungen und Medikamenten nicht ausschließen, warum sollte man auch? Ich will nicht Recht behalten mit meiner Therapie, sondern erreichen, daß es jemandem besser geht. Und dann nehme ich jeden positiven Effekt mit. Aber es heißt eben auch, daß z.B. eine lokale Infiltration mit einem preiswerten Medikament weniger in dieser Hinsicht erreicht als eine 20.000€ Op. Das ist menschlich und damit muß man leben.
Hinzu kommt, daß die Evaluation um so schwieriger wird, je mehr Faktoren man einbezieht. Es gibt eben nur einen Patienten mit der Kombination von beruflichem Streß, familiärer Belastung und schwieriger Zahnsituation. Und wenn eine Kombination von Behandlungen ihm hilft, ist das auch vom Einbetten dieser Modalitäten in die gesamte Lebenssituation abhängig…
Auf einem Kongreß vor ein paar Jahren führte einer der Referenten aus „Nur die Cortison- Injektion in die Schulter ist in ihrem Erfolg validiert“ – und das ist nun eben nicht gerade der Weg, den wir gehen wollen. Es stimmt schon, man könnte es einmal probieren, andererseits reicht dann auch oft das pure Lokalanaesthetikum, und man spart sich und vor allem dem Patienten die negativen Effekte, die fast zwangsläufig mit dem Cortison verbunden sind.
So ist die Schulter ein gutes Beispiel für die Probleme der Medizin im Allgemeinen und der Orthopädie im Besonderen. Es kommt (leider) nicht immer davon her, wo es weh tut. Oft verbirgt sich das Problem an einer anderen Stelle, auf einer anderen Ebene. Und das macht die Therapie – nach all den Jahren – immer noch so spannend. Und wenn man nur einem Teil der Patienten einen Lösungsweg weisen kann, der nicht mit Operationen oder anderen eher eingreifenden Verfahren verbunden ist, hat sich der Aufwand an Gehirnschmalz gelohnt…